„Wolfsburger Kessel“ war rechtswidrig

20. Juni 2023

Juni 2020: Von der Polizei eingekesselte Demonstrierende aus der Perspektive der Betroffenen. Außerhalb des Kessels: Der Journalist Jörg Bergstedt, zu diesem Zeitpunkt noch mit Kamera Foto: H. G. Dempewolf

Am 15. Juni 2023 hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in zweiter und letzter Instanz über einen Polizeieinsatz entschieden, der am Wolfsburger Amtsgericht am 2. Juni 2020 stattgefunden hatte. Damals hatte die Polizei nach einer Solidaritätsdemo vor dem Amtsgericht die Teilnehmenden einer Spontandemo von der Straße gedrängt, eingekesselt, die Personalien aller Beteiligten festgestellt und Platzverweise für das gesamte Wolfsburger Stadtgebiet ausgesprochen. Diese Maßnahmen hat nun das OVG Lüneburg in der Verhandlung als „eindeutig rechtswidrig“ beurteilt.

Diese Vorgänge liegen drei Jahre zurück. Auch Wolfsburger VVN-BdA-Mitglieder waren seinerzeit von dieser Repression betroffen. Wir berichteten damals auf unserer Homepage. Hier ein Auszug aus diesem Beitrag:

Solidarität mit Angeklagten

„In Zusammenhang mit einer bevorstehenden Gerichtsverhandlung gegen einen Umweltaktivisten solidarisierten sich am 2. Juni in Wolfsburg etwa 20 Menschen mit dem Angeklagten. Sie begleiteten ihn mit einer Demonstration und Zwischenkundgebungen zum Amtsgericht. Zur Gerichtsverhandlung wurden nur 4 Personen zugelassen.

Während dessen erfuhren die Protestierenden, dass vier Mitglieder von „Robin Wood“ von der Polizei festgenommen und in der Polizeiwache festgehalten wurden. Als sie dorthin gehen wollten, um die vier Aktivisten bei ihrer Freilassung zu begrüßen, wurden sie nach wenigen Minuten von mindestens 30 PolizistInnen eingekesselt.

‚Wir wurden zwei Stunden lang auf kleinster Fläche eingekesselt! Wasser konnte wegen Coronapandemie nicht herumgereicht werden wie sonst‘, sagt Mechthild Hartung, Landesprecherin der VVN-BdA Niedersachsen.

Platzverweise für Presse

Auch PressevertreterInnen wurde ihre Arbeit unmöglich gemacht. Ihnen wurden Platzverweise erteilt. Der Aktivist Jörg Bergstedt wurde zudem körperlich angegriffen, Dateiträger und Akkus wurden entwendet, anschließend wurde seine leere Kamera und das Stativ konfisziert. Er wurde zur Polizeiwache zitiert, weil dort angeblich die Echtheit seines Presseausweises verifiziert werden sollte.“

(https://wolfsburg.vvn-bda.de/2020/07/08/gegen-polizeiwillkuer-in-wolfsburg-und-anderswo/)

Nachspiel angekündigt

Unser Bericht endete seinerzeit mit dem Satz: „Inwieweit diese polizeilichen Maßnahmen rechtens waren oder auch nicht, ist sehr umstritten. Sehr wahrscheinlich wird es zu den Aktionen der Polizei ein Nachspiel geben.“

Und die gab es dann auch: Fast alle Beteiligten legten Widerspruch gegen die Bußgeldbescheide der Stadt Wolfsburg wegen „Nichteinhaltung der Corona-Abstände“ im engen Kessel ein, fast alle Beteiligten reichten auch Klage gegen die Maßnahmen der Polizei ein. Alle Bußgeldbescheide sind, sofern dagegen Widerspruch eingelegt wurde, von der Staatsanwaltschaft auf Kosten der Staatskasse bereits im November 2022 eingestellt worden.

Das OVG Lüneburg hat nun eine der anhängigen Klagen gegen die Polizeimaßnahmen quasi als „Musterklage“ verhandelt und die Polizeimaßnahmen letztinstanzlich als rechtswidrig beurteilt. Der Kläger, der Braunschweiger Edmund Schultz, ist mit diesem Urteil sehr zufrieden: „Es wurde wieder einmal gerichtlich festgestellt, dass Polizei und Gerichte sich auch in Wolfsburg und Braunschweig an das Grundgesetz halten müssen. Es ist traurig und empörend, dass da offensichtlich Nachhilfe nötig ist.“ Er betonte weiter: „Großen Anteil an diesem Urteil hat der beteiligte Rechtsanwalt Nils Spörkel, der mit viel Engagement unter anderem die Berufung für dieses Verfahren erkämpft hat“.

Die noch in gleicher Sache anhängigen Klagen werden nun vermutlich ohne weiteren Prozess abgehandelt und für die Kläger positiv beschieden.

Klatsche für Polizei

Das gestrige Urteil ist kaum anders zu bewerten als eine Klatsche für die Wolfsburger Polizei und für das Braunschweiger Verwaltungsgericht. Allerdings zeigt die kürzliche Razzia bei den Verkehrswendeaktivist:innen von „Amsel 44“, die mit lächerlichen Vorwänden begründet wurde (Graffiti im Stadtgebiet und die Verwendung des VW-Logos auf einem Flugblatt unbekannter Herkunft), dass die Wolfsburger Polizei nicht lernwillig ist. Die Beschlagnahmung der gesamten IT der Aktivist:innen behindert diese massiv. Sollte das der eigentliche Grund für die Razzia gewesen sein?